Streetfotografie vom Feinsten

Wildfremde Menschen auf offener Straße im Alltag zu fotografieren ist nicht jedermanns Sache. Schließlich riskiert man, ertappt oder zur Rede gestellt zu werden. Da in Deutschland das Recht am eigenen Bild gilt, muss jeder der Verbreitung oder Zur-Schau-Stellung seines Bildes zustimmen, es sei denn die Person ist dafür entlohnt worden. Dass Personenabbildungen zu „Kunstzwecken“ erlaubt sind, ist auch schon vor Gericht gekippt worden, denn hier muss das Persönlichkeitsrecht bzw. die empfundene Verunglimpfung durch das Foto immer gegen die Kunstfreiheit abgewägt werden. Beispielsweise ist es verständlich, sich gegen die Verbreitung eines Street-Fotos zu wehren, das eine Situation zeigt, mit der die fotografierte Person nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Beispielsweise wurde eine Frau in einem reellen Fall mit mürrischem Gesicht vor einem Pfandhaus fotografiert und klagte dagegen. Auf rechtlich einwandfreier Seite steht der Street-Fotograf jedoch, wenn Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder einer Location erscheinen. Oder wenn sich Personen in Demonstrationen oder Karnevalsumzügen ganz bewusst in der Öffentlichkeit zur Schau stellen.

In seinem Buch Street Fotografie zeigt David Gibson, selbst passionierter Streetfotograf und Tutor für Streetfotografie-Workshops, Fotos von 20 verschiedenen Fotografen, darunter auch so bekannte wie Elliott Erwitt, Saul Leiter und Matt Stuart. Bei der Vorstellung jedes Fotografen greift er heraus, was ihn auszeichnet und welche Auffassung er von der Streetfotografie hat, was ihm besonders gelingt und manchmal auch, welchen Effekt er mit seinen Bildern erzeugt hat.

Was mich besonders anspricht, ist der unglaubliche Facettenreichtum der Streetfotografie. Sie reicht von der pointengesteuerten witzigen Momentaufnahme, über leere Straßenfotos, die als Stilleben trotzdem unheimlich viel Aufmerksamkeit erregen, Schattenbilder, Objekte auf Staßen bis hin zur dokumentatorischen Fotografie, um Epochengeschichtliches festzuhalten.

David Gibson stellt eines klar: Streetfotografie soll immer den Respekt vor dem Menschen in den Mittelpunkt stellen. Der Sinn für Humor, Absurditäten und Paradoxien soll aber nicht zu kurz kommen. So fotografierte er einen alten Mann, der am Schaufenster eines Geschäfts vorbeiging, auf dem in großen Lettern steht: „LAST FEW DAYS“. Eine sehr gelungene Aufnahme, die ihm auch Kritik eingebracht hat. Man kommt trotzdem nicht umhin, beim Anblick des Bildes zu schmunzeln. Das Bild wurde im Rahmen einer Ausstellung über ältere Menschen gezeigt und nicht kommerziell verwendet.

Das Buch von David Gibson, das im mitp-Verlag erschienen ist, ist ein Sammelsurium an Ideen, die Lust machen, sich selbst an die Streetfotografie heranzuwagen. Es erweitert den Blick, das Alltägliche mal anders zu betrachten, die Komik oder das Tragische in einem Sekundenbild zu erkennen. Das fast 190 Seiten umfassende Werk, aufgeteilt in die Projekte Betriebsam, Ruhe, Abstrakt, Stilleben und Motive strotz nur so vor Fotomaterial und gibt am Ende jedes Projekts als Schlussfolgerung auch viele nützliche Tipps für die praktische Umsetzung. Auch äußerlich lädt das Buch zum Blättern und Lesen ein. Der urbane Font und die abwechslungsreiche Seitengestaltung lassen keine Langeweile aufkommen. Eine kurzweilige Lektüre und ein Buch, das man immer mal wieder in die Hand nehmen möchte.

Der Schnappschuss ist in der Streetfotografie natürlich möglich – aber selten. Viele Streetfotografen wollen oder können sich aber nicht allein auf den Zufall verlassen. Sie sehen einen interessanten Hintergrund, einen Schriftzug, eine Ampel, eine Laterne oder was auch immer in ihrer Umgebung – und warten dann geduldig, bis eine passende Person vorbeikommt, die dem Foto zu besonderer Aussagekraft verhilft. Ich weiß nicht, wen ich mehr bewundern soll, den pirschenden Tierfotografen, der stundenlang auf der Lauer liegt, bis der Wachtelkönig sich zeigt oder den Streetfotografen, der ähnlich professionell darauf wartet, dass ein schwarz-weiß gestreifter Rock über den Zebrastreifen stolziert.

Nun fällt mir auch wieder ein, warum ich die Streetfotografie immer sträflich vernachlässigt habe. Bei mir auf dem Land kann ich zwar grasende Pferde und neckische Hühner anbieten, aber die fotografierenswerten Straßenszenen halten sich doch stark in Grenzen. :-)

Hier trotzdem ein paar Shots, die schon vor ein paar Jahren recht spontan entstanden sind.

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man smoking and surfing